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Zauberworte

Last updated on 1. Februar 2022

Wer sein Handeln und Tun der Maxime einer möglichen Nachwelt unterordnet, für den hat die Evolution etwas vorgesehen, nämlich Fortpflanzung. Man zeuge zwei Kinder und hoffe, dass jedes sich und seine Nachkommen in der gleichen Häufigkeit vermehre. Bei angenommen drei Generationen pro hundert Jahren führt das nach eintausend Jahren zu 2 hoch 30, also rund einer Milliarde Menschen mit genetischem Material, das vom Urheber stammt, vorzeitige Ausfälle, Einzelgänger, Impotenz und Misanthropen unberücksichtigt.

Andere Möglichkeiten der Nachwelt gesichert bekannt zu bleiben, bestehen darin, Millionen von Menschen umzubringen oder ähnlich gelagerte Grauslichkeiten zu begehen. Die Anzahl der über Jahrhunderte hinaus bekannten Künstler ist im Vergleich mit diversen Tätern gering geblieben. Im Übrigen sollte darauf hingewiesen werden, dass die unter den Dinosauriern bekannten Heldenepen uns trotz ihrer viele Millionen Jahre anhaltenden Herrschaft über diesen Planeten nicht überliefert wurden. Es ist anzunehmen, dass unsere paar tausend Jahre des Hochmuts enden werden, lange bevor die Sonne das Stadium eines weißen Zwergs erreicht.

Betrachten wir trotzdem einmal die nächsten ein bis zwei Jahrhunderte. Welche Möglichkeiten gibt es, literarisch einige wenige Jahre zu überleben? Zu Lebzeiten kommerziell erfolgreich sein und hoffen, dass der Erfolg anhält. Sein Werk in einer Truhe verschließen oder testamentarisch dafür sorgen, dass es nicht aufgeführt oder gar vernichtet werde. Für ausgesuchte Nachlassverwalter, die einen nicht wörtlich nehmen, ist bei dieser Methode naturgemäß vorzusorgen. Seine Arbeit so allgemein gültig (und damit auch neutral) zu halten, dass sie zeitlos bleibe. Der Vorläufer einer bestimmten Stilrichtung oder Denkschule zu sein (oder noch besser ihr Begründer). Oder ein für die eigene Zeit typisches und nachvollziehbares Bild zu vermitteln.

Das sind die mir bekannten Möglichkeiten, deren Aufzählung sicher noch nicht vollständig, aber zumindest anschaulich ist. Und es muss uns bewusst sein, dass bei hunderttausend Büchern, die pro Jahr im deutschsprachigen Raum erscheinen, es überhaupt nur wenige Romanschriftsteller, Dramatiker oder Essayisten geben kann (und auch Poeten!), die eine Chance auf einen gewissen Nachruhm haben.

Was sollen nun Lyriker tun? Sich die Grenzen selbst setzen und wohlgeformte Ziele außer Acht lassen? Nein. Ihre Genitalien öffentlich zur Schau stellen und in Ekel-Shows gehen? Nur wer mag.

Halten wir doch einmal fest, dass wir unter anderem den Vorteil haben, nicht ständig auf der Suche nach Ruhm sein zu müssen. Das bedeutet Konzentration auf das, was der Schreibende will, entstehende Bilder und Worte auszudrücken und zu einem Ganzen zu fügen. Nach der persönlichen Vorstellung auf einem weißen Blatt Papier seinen Träumen zu folgen und sie mit einem Bleistift in der Hand zu führen. Schlecht?

Woher nehmen Künstler die Kraft, ihren Vorstellungen zu folgen, obwohl sie kein Bild verkaufen, Ablehnungen erfahren oder nicht den aktuell gültigen Regeln des Kulturbetriebes entsprechen? Diese Kraft kann nur aus ihnen selbst kommen, sie kann gefördert und unterstützt werden. Eines der Zauberwörter ist nicht Bitte oder Danke, sondern Tu es.

Die nächste Möglichkeit besteht darin, die Geschichte vom halbvollen oder halbleeren Glas zu seinen Gunsten zu drehen. Seine kleinen Erfolge oder besser gesagt Ermutigungen zu sammeln. Veröffentlichungen, Rezensionen, Lesungen, wertschätzende Worte, was auch immer im weitesten Sinn an Positivem geschieht. Es einfangen und gegebenenfalls sogar zu visualisieren. Wir haben die Wahl, ob wir nur die andere Seite sehen, die Nicht-Antworten, Absagen, Verweigerungen und Enttäuschungen.

Ich lebe heute und morgen, ich will schreiben, es schreibt, ich muss schreiben. Schreiben bedeutet zuerst immer für mich. Und das ist das zweite Zauberwort, aus dem Sinn und Sinngebung entsteht. Was will es, das Ich, wenn man diverse Schichten entfernt, Geld, Ruhm und Maslowsche Bedürfnisse dabei nüchtern analysiert. Was will dieses Ich für mich, wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich sind? Und wenn wir das beantworten, so schwierig es ist, dann wissen wir, was wir tun müssen. Denn wir leben jetzt. Die Nachwelt ist für uns irregulär, wir werden sie nicht erleben, nicht spüren, sie hat für uns keine Bedeutung.

Published inAllgemeinLiteratur